Seit rund 20 Jahren hält der NABU auf den Naturschutzflächen entlang der Elbe Tiere, unter anderem Taurus-Rinder. Die wilden Rinder lassen sich nur schwer zusammentreiben und einfangen.
„Es ist eine unglaubliche Tragödie für uns“
Interview mit Dr. Peter Neuhäuser, Vorsitzender des NABU-Kreisverbandes Stendal, zum Hochwasser 2013
Juli 2013 - Anfang Juni 2013 erlebte die Elbe ein Hochwasser bislang unbekannten Ausmaßes. Deiche brachen, Landstriche wurden überspült, ganze Ortschaften evakuiert. Besonders stark getroffen hat es das nördliche Sachsen-Anhalt. 70 Zentimeter stand das Wasser hier höher als beim bisherigen Jahrhunderthochwasser 2002. Die Folgen für Mensch und Natur sind verheerend, auch für den NABU Kreisverband Stendal. Er verlor in den Fluten gleich mehrere seiner Weidetiere. Wie es zu dem tragischen Vorfall kam, schildert Dr. Peter Neuhäuser, Vorsitzender des NABU-Kreisverbandes Stendal.
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Auch Wildpferde werden im Rahmen des Beweidungsprojektes gehalten. Die Rinder und Pferde auf der Westseite der Elbe konnten gerettet werden.
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Trotz mehrerer Versuche war die Evakuierung der Tiere auf der Seite östlich der Elbe nicht erfolgreich.
Herr Neuhäuser, wie sah die Situation Anfang Juni entlang der Elbe aus?
Es war eine dramatische Situation, das höchste Hochwasser, das wir je erlebt haben. Bereits 2002, 2006 und 2011 hatte die Elbregion enorme Wassermassen zu verkraften. Doch dieses Jahr hat alles Bisherige übertroffen. Allein im Landkreis Stendal standen mehr als 20.000 Hektar Land unter Wasser, Tausende Menschen mussten ihre Wohnungen verlassen, mehr als 20 Ortschaften wurden evakuiert. Der Höchststand der Elbe am Pegel Tangermünde lag am Ende bei 8,36 Metern – und damit um circa 70 Zentimeter höher als beim sogenannten Jahrhunderthochwasser 2002. Eine solche Jahrtausendflut hatte niemand vorhersehen können.
In Folge des Hochwassers sind mehrere Pferde und Rinder Ihres Beweidungsprojektes ertrunken. Es gab Kritik in der Öffentlichkeit, Sie hätten nicht rechtzeitig reagiert, um die Tiere in Sicherheit zu bringen. Haben Sie den Anstieg der Wassermassen nicht kommen sehen?
Doch, natürlich. Wir sind seit 20 Jahren Tierhaltungsbetrieb auf Naturschutzflächen entlang der Elbe. Unsere Tiere beweiden das Vorland zwischen Alter Elbe und Stromelbe, deshalb verfolgen wir selbstverständlich jeden Tag die Pegelstände der Elbe, so auch in diesen Tagen Anfang Juni. Alle Tiere, die auf der westelbischen Seite standen – das sind 50 Rinder und zehn Pferde – haben wir schon früh erfolgreich evakuieren können. Auf der ostelbischen Seite, im Bucher Brack, weideten seit 2008 auf großer Fläche eine Zuchtgruppe von 25 Taurus-Rindern und 20 Wildpferden, alles Hengste der Rasse Konik. Schon am Sonntag, den 2. Juni, haben wir begonnen, den Tierbestand auf eine Evakuierung vorzubereiten – obwohl es noch keine offizielle Anweisung vonseiten des Katastrophenstabs gab. An diesem Tag wurde noch ein Höchstpegel von 6,25 beziehungsweise 6,75 Metern vorhergesagt. Wir fingen an, die Tiere auf höher gelegene Stellen in Richtung der vorhandenen Rettungshügel zu treiben. Außerdem pachteten wir eine zwölf Hektar große Ausweichkoppel für die Tiere an. Am darauffolgenden Tag, Montag den 3. Juni, erreichte uns gegen Mittag dann die offizielle Anweisung des Katastrophenstabes, das Elbvorland zu beräumen.
Was haben Sie nach der Anordnung des Katastrophenstabes unternommen?
Am Montag früh waren wir sofort wieder bei den Tieren im Bucher Brack – das war noch bevor die Anordnung des Katastrophenstabes gegen Mittag eintraf. Wir überprüften den Standort der Tiere und schlossen hochgelegene Koppeln an die Stromführung des Elektrozaunes an. Parallel haben wir alle Vorbereitungen für eine Evakuierung der Tiere getroffen: Wir richteten die Ersatzkoppel für die Tiere ein und vereinbarten mit zwei Landwirtschaftsbetrieben, dass die Tiere in Stallanlagen untergebracht werden könnten. Darüber hinaus wurden Trecker und Helfer für die Evakuierungsaktion am Nachmittag gewonnen. Mit vielen Helfern, Treckern, Viehhängern und Treibegittern sind wir dann auf dem Landweg zum Weidegebiet übergesetzt, um die Tiere einzufangen. Doch unsere Versuche schlugen leider fehl; die Tiere sind über trockene Stellen und das Flachwasser immer wieder ausgewichen. Mit Einsetzen der Dunkelheit mussten wir dann abbrechen. Wir konnten jedoch einen Querzaun verschließen, dadurch konnte die Herde nicht mehr in die tief liegenden Bereiche zurück.
Haben Sie Ihr Vorgehen mit dem Katastrophenstab abgestimmt?
Ja, wir haben den Katastrophenstab der Stadt Jerichow und den Landkreis Jerichower Land jeweils zeitnah über unsere Aktivitäten informiert. Am Dienstag früh informierten wir den Kreis Jerichower Land und auch den Landesbetrieb für Hochwasserschutz darüber, dass die Evakuierung am Montag fehlgeschlagen war. Auch an den Folgetagen haben wir den Katastrophenstab schriftlich über den aktuellen Stand zur Situation der Tiere informiert.
Was haben Sie weiter unternommen, um die Herde vor dem Hochwasser zu schützen?
Auf die Weide zu kommen wurde immer schwieriger, das Wassers lief sehr schnell hoch auf. Am Dienstag, den 4. Juli, konnten wir schon nicht mehr auf dem Landweg zu den Tieren gelangen. Natürlich haben wir trotzdem weiter versucht, zu evakuieren. Am Dienstag sind wir mit einem Fischerkahn, vielen Kollegen und der Unterstützung durch den Landeskontrollverband der Rinderzucht Sachsen-Anhalts über die Elbe übergesetzt. Wir haben eine Gasse errichtet, um die Tiere über einen Leitdeich in Sicherheit zu treiben, was der Landeshochwasserbetrieb einmalig auch genehmigt hatte. Anfangs schien das gut zu klappen, doch die Tiere brachen dann seitlich aus. Leider hat es nicht funktioniert, die Tiere danach noch einmal zu locken und zu drücken, dies auch am darauffolgenden Mittwoch nicht. Auch diese leider fehlgeschlagenen Versuche haben wir gemeldet. Gleichzeitig baten wir darum, mit Kollegen auch in den nächsten Tagen mit einem Fischerkahn zum Brack übersetzen zu können.
Warum mussten Sie die Evakuierung beenden?
Ab Mittwochabend untersagten der Katastrophenstab des Landkreises und das Wasserschifffahrtsamt sowohl die Zufahrt über den Wasserweg und auch über den Landweg, also über die Deiche und das Deichvorland. Ab diesem Zeitpunkt gab es für uns keine Möglichkeiten mehr auf die Weide zu gelangen, alle Wege waren versperrt und den Anweisungen des Katastrophenstabs mussten wir Folge leisten. Dadurch spitzte sich die Lage erheblich zu. Am Donnerstag, den 6. Juni, wiesen wir den Katastrophenstab darauf hin und schlugen zwei konkrete Lösungen vor: Entweder wir hätten versucht, die Tiere über den gesperrten Deich in einen nahen Polder zu treiben und die Tiere abzutransportieren. Alternativ schlugen wir dem Katastrophenstab vor, einen Fährpramen oder eine Motorfähre zu ordern, um die Tiere einzufangen und abzutransportieren. Wir baten den Katastrophenstab außerdem, sich dazu mit uns abzustimmen. Doch leider blieb eine Antwort mit einer Entscheidung zu unseren Vorschlägen aus – und so kamen wir über die nächsten Tage einfach nicht mehr an die Tiere heran.
Welche speziellen Probleme gibt es bei der Evakuierung von Koniks und Taurus-Rindern?
Bei den Rassen Konik und Taurus-Rinder handelt es sich nicht um gewöhnliche Milchkühe oder Hauspferde. Taurus-Rinder sind eine Abbildzüchtung des europäischen Wildrindes, des Auerochsen. Koniks sind die Abbildzüchtung des europäischen Wildpferdes, des Tarpans. Sowohl Koniks als auch die Rinder sind sehr robust und den Anforderungen an ein selbstbestimmtes Leben bestens gewachsen. Sie lassen sich jedoch nicht einfach zusammentreiben, wie es bei einer Herde Milchkühe möglich ist. Außerdem sind sie nur auf wenige Personen fixiert, an die sie optisch und stimmlich gewöhnt sind und von denen sie sich am ehesten anlocken lassen. Hinzu kommt, dass die Tiere große und stark bewachsene Flächen beweiden, die sie als ihr Territorium betrachten. Hätten wir die Tiere zum Beispiel betäubt, hätte das Risiko bestanden, dass sie in Panik in den Büschen verschwunden wären und wir sie nicht hätten bergen können. Einzeltiere lassen sich sehr aufwändig betäuben, diese Methode wird von unserem Tierarzt für die vorgeschriebene Ohrmarkierung der Kälber regelmäßig angewendet. Eine komplette Herde kann man auf diese Weise allerdings nicht evakuieren.
Ist das Bucher Brack ein sicheres Weidegebiet für Tiere?
Das Bucher Brack ist ein uraltes Weide- und Hutungsgebiet, wie sich auf 250 Jahre alten Messtischblättern nachvollziehen lässt. Bei allen Hochwassern in den vergangenen Jahren war das Gelände im Bucher Brack für die Tiere trocken und damit sicher geblieben. Auch 2011, bei einem Pegel von 7,25 Metern, hatten die Tiere am Heulager auf den Rettungshügeln ausreichend trockene Liegeplätze zum Wiederkäuen und Ruhen gefunden. Damals ist keines der Tiere zu Schaden gekommen, alle waren bei guter Gesundheit, wie es auch das amtstierärztliche Bulletin des Landkreises Jerichower Land ausweist. Ein so extremes Hochwasser wie in diesem Jahr war einfach nicht vorherzusehen gewesen.
Wie geht es weiter mit dem Weideprojekt des NABU Stendal?
Der Tod der Tiere ist für uns eine unglaublich große Tragödie und hat uns hart getroffen. Es ist nicht nur ein finanzieller Verlust für uns, sondern vor allem ein ideeller. Jedes der Tiere kannten wir von klein auf, wir waren jeden Tag bei ihnen im Gebiet und haben miterlebt, wie die Herde aufgewachsen ist. Das Projekt wurde in den vergangenen Jahren auch wissenschaftlich begleitet und durch das Land Sachsen-Anhalt gefördert. Wie und ob das Bucher Brack künftig vor dem Hintergrund möglicher Hochwasser dieser Dimension weiterbeweidet werden kann, muss in den kommenden Wochen mit den Verantwortlichen vor Ort sowie den Behörden besprochen und entschieden werden.
Die Pflege und Entwicklung von Naturschutzflächen unter Einsatz von Weidetieren spielt in vielen Projekten des Naturschutzes und der Landschaftspflege eine große Rolle. Die Bandbreite reicht von der Extensivierung klassischer landwirtschaftlicher Weidesysteme durch Reduzierung der Tierdichte über die Wiederbelebung historischer Landnutzungsformen (zum Beispiel Schafbeweidung von Halbtrockenrasen und Heiden, Hutewälder) bis hin zur Ganzjahresbeweidung, in der zumeist Rinder und Pferde als Weidetiere eingesetzt werden.
Die Haltung und Betreuung von Tieren erfordert die Einhaltung einer Vielzahl gesetzlicher Vorschriften, viel Erfahrung und Verantwortung. Der NABU selbst hat dazu ausführliche Grundsätze zur Führung von Beweidungsprojekten und der Tierhaltung vorgegeben. Diese sind in der Selbstverpflichtung „Ordnung zur verantwortungsbewussten Führung, Steuerung und Regelung der Arbeit des NABU“ enthalten. Festgehalten ist zudem, dass Beweidungsprojekte grundsätzlich auch den NABU-„Leitlinien für das Tiermanagement“ entsprechen müssen, die derzeit erarbeitet werden.
Hintergründe zum Projektgebiet:
Der NABU-Kreisverband Stendal hält seit zwanzig Jahren Rinder und Pferde für den Naturschutz und die Landschaftspflege an der Elbe bei Tangermünde/Jerichow, im nördlichen Teil des „Biosphärenreservates Flusslandschaft Mittelelbe“. Seit 1993 unterhält der NABU-Kreisverband hierfür einen eigenen Landwirtschaftsbetrieb. Die eingesetzten Weidetiere sind Teil von Beweidungsprojekten und leben ganzjährig auf Orchideenwiesen, Trockenrasen, artenreichen Feucht- und Nasswiesen sowie Auenstandorten. Das Weidegebiet Bucher Brack liegt zwischen der Stromelbe und der Alten Elbe. Die Tiere weideten auf einer hoch gelegenen Insellage rund um das ehemalige „Hirtenhaus“, mit circa 120 Hektar Weidegebiet. Seit Jahrhunderten ist diese Fläche Siedlungs- und Weidegebiet. Die robusten Weidetiere sorgten sowohl für die Artenvielfalt auf den offenen Weideflächen als auch für den Hochwasserschutz an der Elbe, indem sie die sogenannte Rauigkeit des Elbvorlandes verringerten und Sträucher und Bäume befraßen, sodass das Wasser bei Hochwasser besser von den Flächen abfließen kann.
Zur NABU-Website „Wildnis an der Elbe“
Presseerklärung des NABU Sachsen-Anhalt zu den Hochwasserereignissen 2013 am Bucher Brack